Corona Feels Like Chernobyl: Op-Ed by Veronika Fuechtner in Die Welt

Das Déjà-vu stellte sich vollends ein, als ich mich neulich sagen hörte: "Nein, ich weiß nicht, wann wir wieder draußen spielen können." Ich stand mit meinen Kindern vor dem mit Absperrband bunt umwickelten Spielplatz, und in ihren Gesichtern spiegelte sich eine mir vertraute Verunsicherung.

Veronika Fuechtner's Op-Ed in: Die Welt (24.04.2020)

Am Sonntag jährt sich der Unfall des Atomreaktors in der Ukraine. Wann können wir wieder sorglos nach draußen gehen? Das fragten wir uns damals. Und es gibt noch andere Parallelen zum Lebensgefühl in Corona-Zeiten.

 

Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 war ein einschneidendes Erlebnis meiner westdeutschen Jugend. Die Erfahrung, dass unsere Beziehung zur Umwelt von einem Tag auf den anderen massiv eingeschränkt werden kann, ist für viele nicht neu. Nur zu gut kann ich mich an das damalige Spielplatzverbot erinnern und an die allgegenwärtige Angst vor Kontamination.

Das Déjà-vu stellte sich vollends ein, als ich mich neulich sagen hörte: "Nein, ich weiß nicht, wann wir wieder draußen spielen können." Ich stand mit meinen Kindern vor dem mit Absperrband bunt umwickelten Spielplatz, und in ihren Gesichtern spiegelte sich eine mir vertraute Verunsicherung.

Auch 1986 harrten wir sich überstürzender Vorschriften und Empfehlungen: Wir sollten uns beim Nachhausekommen gründlich waschen, wir sollten unsere Schuhe vor der Tür stehen lassen, und schließlich sollten wir ganz zu Hause bleiben.

Wenn Corona abgewickelt ist - werden wir dann andere Menschen sein?

Fußballspiele wurden abgesagt. Besorgte Bundesbürger hamsterten Dosenchampignons. In den Apotheken waren Jodtabletten ausverkauft. An den Grenzen stauten sich kontaminierte Lastwagen.

Alles was bisher frisch und gesund war – Milch, Gemüse, Wasser, Luft – konnte nun krank machen. Je mehr es draußen spross und blühte, desto kleiner wurde unser Radius. In der frühlingshaften Natur atmete überall unsichtbar der Tod.

Im Fall von Tschernobyl hatten die Fragen, die wir damals stellten, weitreichende, gesellschaftliche Konsequenzen. Warum machte die radioaktive Wolke augenscheinlich vor Landesgrenzen halt? Wieso standen die Angaben von Regierungen im Widerspruch zu den wissenschaftlichen Prognosen?

Das erschütterte Vertrauen in die westdeutsche Politik

Tschernobyl erschütterte das Vertrauen der Bundesbürger in die westdeutsche Politik, die viel zu lange an der Behauptung festgehalten hatte, dass wir nicht gefährdet sein würden. Tschernobyl bestärkte uns darin, dass Bürgerinitiativen ein lebenswichtiges Korrektiv für die parlamentarische Politik waren.

Die Katastrophe wurde zum Ausgangspunkt einer Protestbewegung, die zur gesetzlichen Verankerung des Atomausstiegs führte.

Und das ist vielleicht einer der größten Unterschiede zur heutigen Zeit. Während Tschernobyl am Ende Umweltschutz und Basisdemokratie stärkte, droht Corona langfristig einer autoritären und nationalistischen Politik Auftrieb zu geben.

Weltweit rechtfertigt das Virus bereits die Ausgrenzung von Migranten und Minoritäten, z.B. von Mexikanern in den USA, von Indigenen in Brasilien oder von Roma in Ungarn.

Die mit wissenschaftlichem Vokabular verbrämte Identifikation von Krankheitserregern mit rassistischen Bildern von "Fremdkörpern" zirkulierte auch in Deutschland immer wieder seit dem späten 19. Jahrhundert – von Juden als "Bazillen" zu "Negern" als Trägern von HIV, Tuberkulose oder jetzt eben Corona.

Zeitungen berichteten bereits von Diskriminierung von Berlinern, die als asiatisch oder italienisch wahrgenommen wurden.

 

Christa Wolf hat in ihrer Tschernobyl-Erzählung "Störfall" die Frage gestellt, ob nicht die "Objekte ihrer Angst" die Generationen mehr als alles andere unterscheiden. Aber vieles spricht im Moment dafür, dass der größte Unterschied nicht in den Objekten der Angst besteht, sondern im Umgang damit.

Vielleicht können wir hier von Tschernobyl lernen. Damals fragte ich mich oft, ob die Welt jemals wieder so werden würde, wie sie mal war. Im Nachhinein ist die Antwort beides, ja und nein.

Ich kann heute wieder ohne Angst durch eine Frühlingswiese laufen. Wenn auch jetzt auf absehbare Zeit im Abstand von 1,50 Meter zu anderen Spaziergängern.

 

Und gleichzeitig sitzt mir die Panik immer noch in den Knochen, die ich verspürte, als ich an einem Frühlingsnachmittag vor über 30 Jahren auf meinem Klapprad wie besessen vor einer sich düster zusammenbrauenden Gewitterwolke davon radelte, um noch vor dem radioaktiven Regen nach Hause zu kommen.

Nach Tschernobyl mussten wir einen Teil der Angst gehen lassen können, um in den Alltag zurück zu finden. Und wir haben an dem anderen Teil festgehalten, um uns zu engagieren. Und so vertraue ich darauf, dass beides eintreten wird.

Die Angst wird bleiben, und wir werden daran arbeiten, für alle das Privileg zu erhalten oder zu erkämpfen, sich in einer unabänderlich globalisierten Welt frei bewegen zu können. Und die Angst wird gehen, und wir werden einander wieder umarmen können.

https://www.welt.de/debatte/kommentare/article207472775/Krisenmodus-Das-Corona-Gefuehl-erinnert-mich-an-Tschernobyl.html